Baby CEO

Ohne Erfahrung ein Unternehmen führen

„Das darf doch nicht wahr sein: Da kommt diese junge Frau frisch von der Uni und will uns jetzt erklären, was wir zu tun haben?“ Ungefähr das haben vermutlich viele unserer Mitarbeitenden gedacht, als ich als frischgebackene Geschäftsführerin durch das Unternehmen stolzierte – in dem Irrglaube, nur ich mit BWL-Studium und ein bisschen Konzernerfahrung wüsste, wie der Hase der läuft.

Der Dunning-Kruger-Effekt lässt grüßen: Ich stand also in manchen Bereichen ganz weit oben auf “Mount Stupid” und überschätzte meine Fähigkeiten maßlos. In anderen Bereichen hingegen war mir bewusst, dass ich schlichtweg unqualifiziert war. Trotzdem wollte ich die taffe Unternehmerin sein. Daher versuchte ich, meine Inkompetenz krampfhaft zu überspielen.

BWL-Studentin vs. Alter Hase

Wer mit Anfang 20 Geschäftsführerin wird, hat keine 40 Jahre Berufserfahrung. Ich arbeite üblicherweise mit Abteilungsleiter*innen, Rechtsanwält*innen, Steuerberater*innen, Geschäftsführer*innen und Wirtschaftsprüfer*innen zusammen. Viele dieser Berufe erfordern eine langwierige Ausbildung und viel Berufserfahrung. Wie lange muss man studieren und sich qualifizieren, bis man sich z. B. „Fachanwalt Steuerrecht mit Spezialisierung auf Familienstiftungen“ nennen darf?

Ich kenne die Antwort nicht. Ich schätze aber ›lange‹ trifft es sehr gut. Die meisten der Menschen in meinem Umfeld haben länger studiert, als ich im Berufsleben bin und haben schon in ihrem Job gearbeitet, als ich in den Kindergarten ging. Diese erfahrene Expertengruppe traf nun auf mich: Ich hatte den Bachelor in der Tasche und keine nennenswerte Berufserfahrung, abgesehen von meinem dualen Studium in einem Konzern. Das Wissens- und Erfahrungsgefälle war nicht zu übersehen. Und dennoch habe ich meine Überforderung anfangs gut überspielen können. Bis zu dem Punkt, an dem es um die Jahresabschlüsse ging.

Tiefrote Zahlen: Bin ich die Null – oder die Firma?

Als Geschäftsführerin musste ich die Jahresabschlüsse unserer vier Unternehmen prüfen. Hemdsärmelig, aber blauäugig, habe ich die einzigen Kennzahlen für die Prüfung genutzt, die ich aus dem BWL-Studium kannte. Das Ergebnis der Prüfung: rote Zahlen, wohin das Auge reicht. Wie konnte das sein? Ging es unserer Unternehmensgruppe so schlecht? Unmöglich! Lag es an mir? Wohl eher. Ich brach in Panik aus. Ich wusste, dass ich diese Abschlussberichte nur zur Hälfte verstanden hatte und trotzdem am nächsten Tag die Gesellschafterversammlung anstand. Schlaflose Nächte, Appetitlosigkeit und ständig dieses flaue Gefühl im Magen, dass ich es nicht zur Geschäftsführerin taugte. In der Gesellschafterversammlung zur Verabschiedung der Jahresabschlüsse konnte ich dem Druck nicht mehr standhalten und brach weinend zusammen – vor unserem Wirtschaftsprüfer, unserem Steuerberater und meinen Mitgesellschaftern.

Erst dann haben die Menschen um mich herum erkannt, wie überfordert ich war. Vorher haben sie mir die taffe Unternehmerin (mehr oder weniger) abgekauft. Wer so tut, als ob er alles im Griff hat, dem wird keine Hilfe angeboten. Zum Glück waren meine Steuerberater und Wirtschaftsprüfer enorm hilfsbereit und haben mir sofort Unterstützung angeboten: »Frau Schirmer, wir helfen Ihnen. Rufen Sie uns jederzeit bei Fragen an. Gemeinsam mit uns bekommen sie das hin.« Ich bin diesen Menschen sehr dankbar, denn ohne ihre Hilfe hätte ich es nicht geschafft. Und ich habe einiges von ihnen gelernt. Beispielsweise waren die Kennzahlen, mit denen ich die Abschlüsse prüfte, für produzierende Betriebe gedacht – nicht für den Handel, geschweige denn für eine Beteiligungsgesellschaft. Dort werden ganz andere Kennzahlen herangezogen. Bildlich gesprochen habe ich versucht, mit einem Thermometer die Geschwindigkeit eines Autos zu messen. Es gibt natürlich Ergebnisse, nur sind sie nichts sagend.

Learning by burning

Neben den vielen hilfsbereiten Experten gab es aber auch welche, die meine Erfahrungslücke ausgenutzt haben. Experten haben Entscheidungen an mir vorbei getroffen – und mich dann in Verhandlungen auflaufen lassen. Wenn im Hintergrund schon Absprachen getroffen wurden, siehst du als einzige unwissende Person am Verhandlungstisch natürlich doof aus. Diese Erlebnisse waren schmerzhaft und haben mich auch psychisch an meine Grenze gebracht. Es hat gedauert bis ich mich davon erholt habe. Aber auch schlechte Erfahrungen sind Erfahrungen. Nikki Lauda sagte einmal: Extreme Erfahrungen bringen dich extrem weiter. Ich kann diese Aussage für mein berufliches Leben unterschreiben.

Denn ich habe in diesen extremen Situationen viel gelernt: Ich habe gelernt, nie wieder die Verhandlungsführung aus der Hand zu geben. Ich habe erfahren, wie schmerzhaft ein Vertrauensbruch sein kann – und wie befreiend, nachdem ich die Konsequenzen daraus gezogen habe. Ich habe gelernt, rechtliche Angelegenheiten nur noch schriftlich zu delegieren. Ich kenne Verhandlungstaktiken und weiß, wann ich eine Verhandlung besser abbreche.

Johanna Schirmer übernahm mit 21 Jahren die Nachfolge des Familienunternehmens und den Vorstand der Familien­stiftung. Sie lernte im Schleudergang was es heißt, ein Un­ternehmen zu führen. Davon erzählt sie in ihren Vorträgen.

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Im Alter werde ich Möglichmacherin

Ich habe auch gelernt, wie wichtig es ist, anzusprechen, wenn man etwas nicht weiß oder nicht versteht. Die meisten Menschen teilen gerne ihr Wissen, wenn man ihnen eine gewisse Wertschätzung entgegenbringt. Und: Ich habe gelernt, nicht die Beste sein zu müssen, sondern die besten Menschen um mich herum zu versammeln. In jeder schwierigen Situation steckt für mich ein enormes Lernpotenzial. Leider lernt man gerade in schwierigen Situationen sein Handwerkszeug, um eine bessere Unternehmerin zu werden. Immer wieder darf ich Lektionen mitnehmen, die mir in meiner Entscheidungsfindung helfen.

Und noch etwas nehme ich mit: Ich habe noch rund 40 Jahre Arbeitsleben vor mir. Irgendwann werde ich die Person am Tisch sein, die einen größeren Erfahrungsschatz hat. Und dann werde ich mich hoffentlich daran erinnern, wie es sich angefühlt hat, auf der anderen Seite des Tisches zu sitzen. Ich werde meinen Erfahrungsvorsprung nutzen, um zu helfen – und nicht, um meinen eigenen Vorteil daraus zu ziehen!

Was sind deine Erfahrungen?

Wie erging es dir als junge Nachfolgerin oder junger Nachfolger? Wie bist du mit deiner Erfahrungslücke umgegangen – und wie deine Mitmenschen? Ich freue mich auf deine Geschichten, schreib mir gerne eine E-Mail oder eine Nachricht auf LinkedIn!